Der Wert der neuen Web-Applikationen lässt sich an der Bedeutung und der Verbreitung des Begriff Web 2.0 ablesen. Doch nicht nur im kommerziellen Bereich sind diese neuen Prinzipien bedeutend, auch im Bereich der Generierung und Verbreitung von Wissen haben neue kollaborative Anwendungen das Internet revolutioniert. So schreibt Vanessa Diemand in dem Buch: Weblogs, Podcasting und Videojournalismus über die verschiedenen Interessen:
»Das Web 2.0 umfasst demnach eine Entwicklung, in der sich der Nutzer das Netz für seine Bedürfnisse erobert – zugleich aber machen sich Akteure mit strategischem Interesse diese Bedürfnisse zu eigen und instrumentalisieren ›Social Software‹, um ihre Ziele zu realisieren« 1
Auf der Ebene des kollektiven Wissens und des kollaborativen Publizierens ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia die am weitesten verbreitete und die bekannteste Website im Web 2.0. Im September 2006 wurden von WikiStats 5,3 Mio. Artikel in circa 160 Sprachen verzeichnet. Davon sind knapp 1,5 Mio in englischer Sprache verfasst, in deutscher Sprache sind es knapp 600.000 Artikel. Japanisch, Polnisch, Französisch, Schwedisch, Holländisch, Dänisch und Italienisch sind ebenfalls häufige Sprachen der Wikipedia. 80 Millionen Anfragen pro Tag sind von dem spendenfinanzierten Projekt derzeit zu bewältigen.2
Gründer der Wikipedia ist der Internet-Unternehmer Jimmy Wales, der es als Ziel hatte eine freie Variante der existierenden kostenpflichtigen Enzyklopädien zu schaffen. Er gründete zuerst Nupedia im März 2000. Erik Möller beschreibt das Projekt folgendermaßen:
»Doch nicht die totale Offenheit sollte zum Erfolg führen, sondern rigorose Qualitätskontrolle durch ›Peers‹, also qualifizierte Experten aus den jeweiligen Fachgebieten. Artikel sollten von motivierten, informierten Freiwilligen stammen, deren Werke einen komplizierten Prozess von Faktenprüfung, Lektorat und Finalisierung überstehen mussten. In den drei Jahren seiner Existenz produzierte Nupedia ca. 30 (dreißig) Artikel. Die Bürokratie demotivierte zahlreiche Freiwillige, die sich für das Projekt interessiert hatten.«3
Larry Sanger, der für die Koordination von Nupedia zuständig war, schlug laut Erik Möller vor, Wikis als Schmierzettel für die Enzyklopädie zu verwenden. Am 15. Januar 2001 startete das Projekt. Der Unterschied zu Nupedia war, dass nun keine ausgesuchte Gruppe von Spezialisten sondern alle Internetnutzer aufgefordert waren, an dem Projekt teilzunehmen.4 Hier liegt auch der Unterschied zu den Projekten der Freien Software. Nicht mehr interessierte und freiwillige Spezialisten sind die Gestalter der Seite, sondern die breite Öffentlichkeit mit all ihren Interessengruppen und engagierten Internetnutzern gestaltet eine kostenlos zugängliche Enzyklopädie.
Wikipedia beruht auf den sogenannten Wikis und ermöglicht so die Zusammenarbeit von vielen Autoren an einem Artikel. Der Begriff leitet sich von WikiWikiWeb ab und wurde von Ward Cunnigham geprägt. »Wiki Wiki« bedeutet dabei »schnell« auf Hawaiisch. Die Wikis sollten schnell mit Inhalten zu füllen und ohne HTML Kenntnisse editierbar sein.5
Da die Artikel in Wikipedia von Freiwiligen erstellt werden, liegt es nahe, sie nicht unter das Urheberrecht sondern unter eine freie Lizenz zu stellen. So kann das Wissen, das in Wikipedia zusammengetragen wird weiter verbreitet werden und auch weniger Privilegierten Zugang zu Informationsquellen ermöglichen. Jimmy Wales wählte die GNU Free Documentation Licence (FDL). Die GNU FDL lässt sich mit der GNU GPL vergleichen. Es wird statt Code nur Text lizensiert. Die GNU FDL erlaubt freies Kopieren, wenn die Derivate nach dem Copyleft-Prinzip ebenfalls unter freier Lizenz stehen. 6
Eine andere Form der freien Lizenz ist die Creative Commons Lizenz, die seit Ende 2002 verfügbar ist. Sie wurde von Lawrence Lessig, einem an der Stanford University lehrendem Juristen lanciert. Felix Stalder schreibt über die CC:
»Während sich CC bewusst an die GPL anlehnt, wurden einige Modifikationen am Lizenzmodell vorgenommen, um den Besonderheiten kultureller Produktion (Musik, Texte, Bilder und Filme) gerecht zu werden. CC bietet den Urhebern ein einfaches, web-basiertes Formular an, mittels dessen sie Lizenzbedingungen auf ihre individuellen Bedürfnisse anpassen können. Die freie Kopier- und Verteilbarkeit und die Pflicht der Autorennennung sind bei allen CC Lizenzen vorgegeben.«7
Bei der CC-Lizenz wird dem Autoren nicht vorgeschrieben, er habe sein Werk zur Weiterverarbeitung zuzulassen. Der Autor kann frei darüber entscheiden, zu welchem Zweck er sein Werk anderen zur Weiterverarbeitung zur Verfügung stellt und ob er das überhaupt will.8 Der freie Zugang zu dieser Sammlung von Wissen ermöglicht einen völlig neuen Umgang mit Inhalten. Diese können als Grundlage für neue kollaborative Projekte genutzt und auch immer wieder erweitert werden. So setzt das kollaborative Publizieren fast schon eine freie Lizenz voraus, da sonst der Prozess der Generierung von Inhalten gar nicht erst in Bewegung kommen würde.
Die in Wikipedia generierten Inhalte unterliegen einer ständigen Kontrolle durch Autoren und Editoren. So gibt es Beobachtungslisten für Änderungen von Nutzern und Listen auf denen alle Bearbeitungen eines einzelnen Nutzers aufgeführt sind. Durch diese Listen können Vandalismus oder andere offensichtliche Fehler schnell beseitigt werden. Anders sieht es bei nicht schnell sichtbaren sachlichen Fehlern aus. Die Zitierfähigkeit von Wikipedia wird immer noch angezweifelt.9
Die Inhalte von Wikipedia unterliegen folgenden Richtlinien. So soll die Neutralität durch den »neutral point of view« (NPOV), also den neutralen Standpunkt gewährleistet werden. Dabei sollen die Autoren darauf achten, dass wenn verschiedene Standpunkte zu einem Thema vertreten werden, diese auch gleichberechtigt nebeneinander im dazugehörigen Wikipedia-Beitrag zu finden sind. Laut Erik Möller gab es so zum Beispiel in der englischen Wikipedia im Januar 2006 etwa 1400 Artikel die mit »Die Neutralität dieses Arktikels ist umstritten« gekennzeichnet waren. Darunter seien auch viele bedeutende Themen wie der Nahost-Konflikt, Genozid oder der Kosovo-Krieg.10
Dadurch, dass alle Internetnutzer an Wikipedia mitschreiben, sind es eben auch unterschiedliche Interessen, die durch die Enzyklopädie aufeinander prallen. Erik Möller beschreibt dieses gesellschaftliche Phänomen so:
»Anhänger verschiedenster Sekten bemühen sich beispielsweise regelmäßig darum, jede Kritik zu löschen oder ins Abseits zu verbannen. Umgekehrt versuchen Kreationisten, also Menschen, die Darwins Evolutionstheorie ablehnen, ihre religiöse Sicht in Artikel aus der Biologie zu integrieren. … Letztlich spiegelt der aktuelle Stand vieler Wikipedia-Artikel auch den Aufklärungsstand unserer Gesellschaft wieder, was natürlich für jede Enzyklopädie gilt.«11
Wie Stadler in seinem Aufsatz »Neue Formen der Öffentlichkeit und kulturellen Innovation« betont, sind manche Artikel nicht als feststehende Tatsachen sondern als sich entwickelnde Prozesse zu beobachten.12 Dabei ist eine Version eines Artikels nur Teil eines Gesprächs, das mit jedem neuen Ereignis fortgeschrieben wird. Gerade die aktuellen Artikel sind hier schon durch diese Dynamik einem statischen Lexikon voraus.
Damit die Qualität der Artikel trotz Vandalismus und Einmischung von Interessengruppen hoch bleibt, gibt es für die Autoren stilistische und inhaltliche Empfehlungen, es werden Löschkandidaten vorgeschlagen, exzellente Artikel und Bilder werden bewertet und hervorgehoben und es werden Initiativen wie eine Qualitätsoffensive oder Zusammenarbeit der Woche gestartet, die die Aufmerksamkeit der Gemeinde laut Möller auf ein Thema lenken sollen. Auf sogenannten Cleanups werden Artikel aufgelistet, die Mängel aufweisen.13 Die Digitale Gemeinschaft bemüht sich also sehr Fehler, Unvollständigkeit und Überlappungen zu beheben und Wikipedia kontinuierlich zu verbessern. Hier wird deutlich wie viel eine Online Gemeinschaft durch Vernetzung und Kommunikation bewegen kann.
1 Diemand; Mangold, Weibel 2007: S. 12
2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wikistats/DE/Sitemap.htm, Vgl. Yoo 2007: http:///Mediacheck/2007/10/24/WikiVOhMyNews/
3 Möller 2006: S. 174
4 Vgl. Stadler 2006: S. 309 ff.
5 Vgl. Möller 2006: S. 170 f., Vgl. Leggewie 2006: S. 49 ff.; Anderson 2007: S. 77 ff.
6 Vgl. Stalder 2006: S. 305 f., Vgl. Möller 2006: S. 175 ff.
7 Stalder 2006: S. 307
8 Vgl. Stalder 2006: S. 307
9 Vgl. Möller 2006: S. 177
10 Vgl. Stadler 2006: S. 310, Vgl. Möller 2006: S. 178 f.
11 Möller 2006: S. 178
12 Vgl. Stadler 2006: S. 304 f.
13 Vgl. Möller 2006: S. 179 f.
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