Das neue Medien-System


Das neue Medien-System zeichnet sich durch die Vielzahl an Möglichkeiten der Kommunikation und Distribution aus, die seinen Teilnehmern zur Verfügung stehen. Die technische Voraussetzung für dieses System ist das Internet als dezentrales, egalitäres Netzwerk, das den Raum für Veröffentlichung und Diskussion bereitstellt. Oft wird das Internet nicht zu den Massenmedien gezählt, weil es rückkanalfähig ist, also eine beidseitig Kommunikation stattfinden kann. Wenn Massenmedien als »Ein-Wege-Medien« aufgefasst werden, in denen eine Botschaft an viele Rezipienten gesendet wird, die selbst nicht wieder zurücksenden, gehört es nicht zu den Massenmedien. Außerdem rufen einzelne Nutzer Inhalte aus dem Internet ab, wodurch Internet-Nutzung der Individualkommunikation zuzuordnen wäre. Diese Tatsache macht das Internet zum Pull-Medium im Gegensatz zu den Push-Medien Radio und Fernsehen. Zu welcher Art von Medium das Internet zählt, ist also vom Dienst abhängig welcher genutzt wird. ((Vgl. Laudien 2006, Stichwort Internet: S. 159 ff., Vgl. Schenk 1999: S. 174))

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Abbildung 2.4.: Intercast bzw. bottom-up-Modell, Quelle: Willis, C; Bowman, S.: We Media, 2003, S. 10

 

Online-Medien und alle, die über einen Internetzugang und »Webspace« verfügen, können je nach zur Verfügung stehendem Speicherplatz, alles veröffentlichen,  solange es nicht gegen geltendes Recht verstößt. Die oft bemängelte Datenflut ist nicht zuletzt auf diese Tatsache zurückzuführen. Hier herrscht »Knappheit an Zeit und Kompetenz der Rezipienten«, wie der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger es in seinem Beitrag auf onlinejournalismus.de ausdrückt. ((Neuberger 2004: http://goa2003.onlinejournalismus.de/webwatch/p2p.php)) Die Rezipienten müssen aus der Vielzahl an Informationen, heraussuchen, was für sie relevant ist und die Qualität der Informationen überprüfen. Dieses Verhalten setzt Medienkompetenz vorraus, welche gut über medienpädagogische Angebote erlernt und eingeübt werden kann. Hilfe bei der Informationssuche leisten Suchmaschinen, Webkataloge und das sogenannte »Social Bookmarking«, bei dem Internetnutzer ihre Lesezeichen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und andere diese bewerten.

Eine Konvergenz der Medien ist zu beobachten, da lineare Programme abgelöst werden von allein stehenden, abrufbaren Formaten in Text, Bild und Ton. Fernsehsender liefern auf ihren Websites Hintergrundinformationen in Textform, Online-Zeitungen lassen ihre Reporter Videos vor Ort drehen und veröffentlichen diese zusammen mit dem Artikel. ((Vgl. Löffelholz 2004: S. 421 ff.))
Nicht nur die klassischen Massenmedien sind vertreten, auch Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, Hochschulen und in großem Ausmaß Politiker und andere Personen des öffentlichen Interesses nutzen das Internet, um sich direkt an potenzielle Kunden, Wähler, Spender und Interessierte zu richten. Die Massenmedien haben nicht mehr das Monopol auf die Informationsvermittlung, sie sind einer von vielen Kommunikatoren im Netz. Die Quellen erreichen die Öffentlichkeit nicht mehr nur über den Umweg der Medien, sprechen ihr Publikum im Internet direkt an. ((Vgl. Neuberger 2003: S. 132 f., Vgl. Wirtz; Burda; Raizner 2006: S. 40 f.))

So beschreibt der Journalistikprofessor und Weblogger Jay Rosen diese Erfahrung:

»Before I started PressThink I had to pass all my ideas about journalism and journalists through the very gatekeepers in the press I was writing about. But now that I have my own magazine I don’t have to do that, and the gatekeepers come to my blog and read what I think. That’s a big difference. I finally have intellectual freedom.« ((Rosen 2005: S. 45))
Neben sachlich recherchierter Information findet sich Öffentlichkeitsarbeit und Werbung, Fakten und Wertungen sind oft nicht klar voneinander abgegrenzt. Auch ist oft unklar, ob die Quelle einer Information vertrauenswürdig ist. Ebenso können Individuen in diesem System eine breite Masse erreichen. Da die Nutzer dieser Formate aber aktiv auf den angebotenen Inhalt zugreifen müssen, ist hier nicht von Massenmedien sondern von Abrufdiensten zu sprechen. ((Vgl. Neuberger 2003: 133))

In einer Studie von Thomas Schnedler »Die Content-Falle« beauftragt vom »Mainzer Medien Disput 11«, äußerte sich Dirk Neuhoff aus der NDR-Programmdirektion so über den Wandel des Mediensystems:

»Die Zeit des klassischen Sender-Empfänger-Modells, die ja technisch begründet war, ist einfach vorbei. Wir sind eine Institution, die Inhalte generiert, die dann über verschiedene Verbreitungswege gepusht, gepullt oder sonst wie verteilt werden.« ((Schnedler 2006: S. 25))

Bowman und Willis beschreiben das neue System durch das »intercast«-Modell beziehungsweise den »bottom-up«-Ansatz. Alle Beteiligten sind gleichgestellt und haben die Möglichkeit Informationen und Meinungen zu vermitteln und abzurufen, darüber hinaus ist es ebenfalls möglich, über den veröffentlichten Inhalt zu diskutieren und zu debattieren. Daher wird das System unter Begriffen wie »Peer-to-Peer« oder »Social Network« eingeordnet. ((Vgl. Bowman; Willis 2003 S. 10))

John Hiler zitiert in diesem Zusammenhang James Lilek, der den Unterschied zwischen altem und neuem Medien-System prägnant formuliert:

»The newspaper is a lecture. The web is a conversation.« ((Lilek zitiert aus: Hiler 2002: http://web.archive.org/web/20060427144931/www.microcontentnews.com/articles/blogosphere.htm))

Das neue Medien-System beinhaltet die Massenmedien sowohl in ihrer traditionellen Form als auch durch ihren Internetauftritt. Die neu entstandenen Medien nennt Hiler »Collaborative Media« und fasst sie in dem System »Blogosphere« zusammen. Es werden hier dezentrale »personal publishing« Websites namens Weblogs und zentrale Plattformen auf der Basis von Weblog-Publishing Software unterschieden. ((Vgl. Hiler 2002: http://web.archive.org/web/20060427144931/www.microcontentnews.com/articles/blogosphere.htm, Vgl. Neuberger; Nuernbergk; Rischke 2007: S. 96)) Aber auch andere Formen der Kommunikation, wie persönliche Medien, P2P-Netzwerke und andere Tauschdienste, Suchdienste, »Information Communities« und »Conversation Communities« oder auch »Social Networking« Sites sind im neuen Medien-System vertreten und stehen in Beziehung zueinander. ((Vgl. Willis; Bowman 2005: S. 6))
Als Weblog oder kurz Blog wird eine Website bezeichnet, die in umgekehrt chronologischer Weise strukturierte Beiträge enthält und oft auf andere Seiten verweist. Die Betreibung dieser Seiten ist einfach und oft kostenlos. So ist zum Beispiel LiveJournal ein kosten- und werbefreier Dienst. Die Registrierung bei diesem Blog-Hoster reicht aus, um Texte veröffentlichen zu können, Programmierkenntnisse sind nicht erforderlich. ((Vgl. Möller 2006: S. 124))

Ein Trend zeigt sich im Aufkaufen von neuen Internet-Diensten durch die traditionellen Medien-Unternehmen. So hat beispielsweise Rupert Murdochs News Corporation 2005 die bekannte Blog-Community MySpace erworben. Dieser Dienst ermöglicht es Internet-Nutzern ebenfalls einen Blog zu betreiben und sich mit anderen Nutzern zu vernetzen. Yahoo! dagegen hat 2005 die Foto-Community Flickr übernommen. Auch die Studenten-Community StudiVZ wurde im Frühjahr 2007 vom Holzbrinck-Verlag übernommen. Die traditionellen Medienverlage konkurrieren mit den neuen Internet-Konzernen Amazon, Google und Yahoo! um die Vormachtstellung im Internet und bewirken damit eine Kommerzialisierung des partizipativen Online-Medien. ((Vgl. Möller 2006: S. 128, Vgl. Diemand 2007: S. 58))

Da Weblogs eine Technologie sind, kann durch die Bezeichnung allein nicht auf den Inhalt geschlossen werden. Viele Weblogs werden als persönliche Tagebücher geführt oder erzählen von Erlebnissen die nicht von öffentlicher Relevanz sind. Es gibt aber auch die sogenannten »Watchblogs«, die sich zur Aufgabe gemacht haben Medien, Wirtschaft und Politik zu kontrollieren und zu kritisieren. Genauso sind Augenzeugenberichte und Artikel von Experten zu finden. Die Schreiber von Weblogs sind eine heterogene Gruppe, die sich aus Universitätsprofessoren, Journalisten, Studenten, Angestellten, Menschen mit Fachwissen, Jugendlichen, kurz allen zusammensetzten, die etwas zu berichten und Zugang zum Internet haben. ((Vgl. Hiler 2002: http://web.archive.org/web/20060427144931/www.microcontentnews.com/articles/blogosphere.htm))

Kollaborative News-Websites wie Slashdot.org oder Kuro5hin.org sind häufig auf technische Themen spezialisiert und mit Foren oder Kommentarfunktionen versehen. Die Verwaltung dieser Websites geht von einem kleinen Betreuerkreis (Slashdot.org), bis hin zu komplexen kollektiven Bewertungssystemen (Kuro5hin.org). ((Vgl. Bowman; Willis 2003: S. 10))

Diese Diplomarbeit konzentriert sich auf die Internetnutzer, die sich Augenzeugenberichten, dem Filtern von Nachrichten, der Überprüfung von Fakten, Kritik und Kontrolle, auch »Watchdogging« genannt, Kommentar und Analyse verschrieben haben. Sie sind die Nutzer der partizipativen Online-Medien, die auch »Social Media« oder »Collaborative Media« genannt werden. Unter partizipativen Online-Medien werden alle Medien verstanden, die eine Recherche, Verarbeitung und Veröffentlichung von Informationen und Meinungen durch Internetnutzer möglich machen und eine Zusammenarbeit mit professionellen Medienmitarbeitern beinhalten. ((Vgl. Möller 2006: S. 138 ff., Vgl. Neuberger; Nuernbergk; Rischke 2007: S. 96))

Untereinander sind die zentralen wie die dezentralen partizipativen Medien stark vernetzt. Informationen werden verlinkt und somit schnell verbreitet. Die partizipativen Medien stehen wiederum mit den Massenmedien in Beziehung. Hiler bezeichnet sie als symbiotisch, da sowohl die Blogosphäre sich auf Meldungen und Meinungen der Massenmedien bezieht, als auch die Massenmedien, vor allem auf dem technischen Sektor neue Geschichten in der Blogosphäre sucht. Im Netz sind unterschiedliche Redaktionsstrukturen dieser partizipativen Medien zu finden. ((Vgl. Möller 2006: S. 138 ff., Vgl. Neuberger; Nuernbergk; Rischke 2007: S. 96))

Ein weiteres Charakteristikum des neuen Systems ist der Filtervorgang. Während die Massenmedien die Nachrichten erst filtern und dann veröffentlichen, entstehen die Publikationen laut Clay Shirky, einem Tutor an der New York University und Weblogger, bei den partizipativen Medien durch Diskussion, werden also in der Öffentlichkeit geformt und verbreitet. Die Geschichte wird kontinuierlich erweitert durch neue Perspektiven, neue Ereignisse und auch Berichtigungen. Ist eine Geschichte uninteressant, wird sie nicht durch andere Seiten verlinkt, beziehungsweise bei kollaborativen Publizierungssystemen nicht gut bewertet und somit aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwinden. ((Vgl. Shirky http://www.shirky.com/writings/broadcast_and_community.html)) Clay Shirky hat den Unterschied zwischen neuem und alten System so formuliert:

»The order of things in broadcast is ›filter, then publish.‹ The order in communities is ›publish, then filter‹. If you go to a dinner party, you don’t submit your potential comments to the hosts, so that they can tell you which ones are good enough to air before the group, but this is how broadcast works every day. Writers submit their stories in advance, to be edited or rejected before the public ever sees them. Participants in a community, by contrast, say what they have to say, and the good is sorted from the mediocre after the fact.« ((Shirky 2002: http://www.shirky.com/writings/broadcast_and_community.html ))

Das Internet selbst ist hierbei der Filtermechanismus wobei die Information erst veröffentlicht werden muss, um sich entwickeln zu können oder eben schnell wieder unterzugehen. Dabei ist die Anzahl der Verlinkungen des Beitrags in der Blogosphäre der Maßstab für die Relevanz im Netz. Je öfter eine Seite verlinkt wurde, desto mehr Nutzer halten sie für glaubwürdig und vor allem relevant. Der bewertete Beitrag wird dann oft durch Fachwissen, Meinungen und neue Entwicklungen ergänzt. ((Vgl. Möller 2006: S. 113 f.))

Die Bewertung erfolgt bei den kollaborativen Medien, je nach Komplexität der Website durch einfachen Klick auf einen Button oder die Vergabe von Punkten. Die am besten bewerteten Beiträge und Autoren erscheinen dann in Bestenlisten auf der Seite, womit sie für Leser gut sichtbar werden. Eine Fehlermeldung oder Ergänzung wird durch Kommentare nach dem betroffenen Beitrag angehängt. Die Teilnehmer sind außerdem aufgefordert urheberrechtlich geschützte oder rechtswidrige Inhalte, die sie entdeckt haben, zu melden. Diese Selbstkontrolle ist bei einigen Systemen sehr komplex aufgebaut, was notwendig ist, wenn die Registrierung entfällt und somit die Identität der Internetnutzer nur schwer nachgeprüft werden kann. ((Vgl. Möller 2006: S. 114 f.))

Das neue Medien-System führt also zur Demokratisierung der Medien. Nicht mehr nur die Massenmedien haben die Möglichkeit, Informationen und Meinungen auszuwählen und zu verbreiten. Die Quellen können sich direkt an das Publikum wenden und das Publikum hat die Möglichkeit, aktiv an der Informations- und Meinungsvermittlung teilzunehmen. Das Publikum ist nicht länger passiver Konsument sondern auch Produzent von Inhalten. Außerdem ist es untereinander und mit den Massenmedien vernetzt, wodurch eine Kommunikation über die erstellten Inhalte realisierbar ist und wodurch Kritik, Information und Meinung ein breites Publikum erreichen können. Die Aktivität der Nutzer im Internet teilt sich also in Kommunikation und Information.

Die Erstarkung des Publikums durch seine Fähigkeit sich mitzuteilen und sich zu organisieren, haben Enzensberger und Baudrillard als die Voraussetzung für die Entstehung und Durchsetzung der neuen Medien bestimmt.

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