Partizipativer Journalismus – Zusammenarbeit und Konversation


Redaktionsstrukturen von Partizipativem Journalismus

Die Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Publikum – ermöglicht durch das Internet in früher nicht realisierbaren Dimensionen und Geschwindigkeiten – ist für eine große Zahl von Journalisten in den englischsprachigen Ländern aber auch in asiatischen Staaten wie Süd-Korea und Japan die zukunftsweisende Redaktionsstruktur. Unter der Bezeichnung »citizen journalism«, also Bürgerjournalismus oder auch als »participatory journalism«, übersetzt Partizipativer Journalismus, wird diese Form der Berichterstattung zusammen gefasst. Bowman und Willis beschreiben »citizen journalism« als:

»The act of a citizen or group of citizens, playing an active role in the process of collecting, reporting, analysing and disseminating news and information. The intent of this participation is to provide independent, reliable, accurate, wide-ranging and relevant information that a democracy requires.« 1

Die Frage ist, wie sich partizipativer Journalismus organisiert und welche Redaktionsstrukturen sich gegenüber anderen als überlegen erweisen. Oder ob es eher für unterschiedliche Themen- und Aufgabenfelder jeweils andere Lösungen heraus bilden. Die Ansichten, wie partizipativer Journalismus zu organisieren sei, gehen bei Wissenschaftlern und Journalisten seit der Veröffentlichung der ersten Weblogs auseinander.

Veröffentlichung unter Aufsicht oder offen?

Jay Rosen, Journalistik Professor an der New York University, sieht in der Zusammenarbeit von professionellen Journalisten und Amateur-Journalisten – genannt »pro-am-journalism«  – die vielversprechendste Form des partizipativen Journalismus. Die Stärken einer professionellen Redaktion sieht er in den zuverlässigen Kontrollen, die durch die Geschlossenheit des Systems möglich ist. Diese Geschlossenheit ist aber auch von Nachteil, weil die Redaktion nur so viel weiß, wie ihre Redakteure. Rosen bestätigt, dass dieser Fakt noch kein Nachteil war, solange das Publikum durch das Internet nicht seine informellen Stärken erkannt hat.2 Jetzt kann die Zusammenarbeit mit dem Publikum aber neues Wissen, neue Perspektiven und neue Kontrollmechanismen hervorbringen.

Was die Definition von partizipativem Journalismus angeht, sind Shane Bowman und Chris Willis  anderer Meinung als Rosen. In ihrem Paper erschienen 2006 unter dem Titel »We Media. How audiences are shaping the future of news and information« bestehen sie auf wenig oder besser überhaupt keiner editoriellen Aufsicht durch professionelle Journalisten, da partizipativer Journalismus keine klassisch ausgebildeten Journalisten benötigen würde. Als Beispiel für ihre These nennen sie Weblogs, Foren und Online Communities, die auch ohne Aufsicht effektiv funktionieren. Sie legen dar, die Veröffentlichung sei das Grundlegende und geben die Aufgabe der redaktionellen Bearbeitung und Auswahl von Informationen und Meinungen vollkommen in die Hände der Internetnutzer.3 Partizipativer Journalismus verstehen sie dennoch nicht als Ablösung des professionellen Journalismus, sondern sie sehen in ihm eine Ergänzung des Systems wie im Abschnitt »Das neue Medien-System« beschrieben steht.

Zusammenarbeit mit den Profis

Die Zusammenarbeit von professionellen Journalisten mit Bürgern nimmt ungeachtet dessen im neuen Medien-System einen immer größeren Raum ein. Der amerikanische Technikjournalist, Autor und Gründer der »Grassroots Media Inc.« Dan Gillmor ist überzeugt davon, dass seine Leser ihm bei seiner Recherche und auch bei der Ausarbeitung eines Artikels unterstützen können. In seinem Buch »We the Media« schreibt er:

»It boils down to something simple: readers (or viewers or listeners) collectively know more than media professionals do. This is true by definition: they are many, and we are often just one. We need to recognize and, in the best sense of the word, use their knowledge. If we don’t, our former audience will bolt when they realize they don’t have to settle for half-baked coverage; they can come into the kitchen themselves.« 4

Diese Zusammenarbeit beschreibt er als »grassroots journalism«, also übersetzt Graswurzeljournalismus. Gemeint sind damit vor allem Augenzeugenberichte aus erster Hand und direkt vom Ort der Ereignisse übermittelt. Diese Beiträge sind oft sehr subjektiv und unmittelbar, können aber je nach den Fähigkeiten des Schreibers sehr anschaulich und lebendig sein. Veröffentlicht werden sie entweder als »personal publishing« in Weblogs, oder auf kollaborativen Nachrichtenseiten. Es ist aber auch möglich, dass sie als E-Mail an eine Redaktion geschickt und dann durch die Massenmedien veröffentlicht werden. Unter Graswurzeljournalismus können nicht nur mithilfe bei Recherche und Korrektur sondern die Zusendung von Inhalten wie Fotos, Videos und Audiodaten zu verstehen sein, die Augenzeugen erstellt haben.

Gillmor schreibt weiterhin darüber, wie die zukünftigen Medien gestaltet sein können:

»If were both smart and lucky, future media will be an ecosystem that is vastly richer and more diverse than we have today. It will become a multidirectional conversation, enriching civic dialogue at the local, national and international levels.«5

Berichterstattung über Londoner Bombenanschläge

Ein Beispiel für den Umfang und die Geschwindigkeit, in der solche Berichte die Medien erreichen, sind die Daten, die nach den Londoner Bombenanschlägen vom 7. Juli 2005 die Redaktion des britischen Fernsehsenders BBC erreichten. Dabei wird deutlich, dass die digitalen Aufnahmegeräte, allen voran das Mobiltelefon durch ihre Verbreitung und die Möglichkeit der schnellen Datenübermittlung die Berichterstattung schon jetzt (Stand der Recherche: 2007) nachhaltig verändert haben.

Richard Sambrook, der Direktor des »BBC World Service and Global News division« beschreibt die Flut an Einsendungen durch die Öffentlichkeit bei diesem Ereignis. Sechs Stunden nach den Bombenanschlägen erhielt die BBC 1.000 Bilddateien, 20 Amateurvideos, 4.000 Textnachrichten und 20.000 E-Mails. Die Teilnahme der Zuschauer an der Berichterstattung war nie zuvor so hoch gewesen.6

Sambrook fasst die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit von Bürgern und professionellen Journalisten und die Konsequenzen, die er aus ihr zieht, so zusammen:

»Our reporting on this story was a genuine collaboration, enabled by consumer technology – the camera phone in particular – and supported by trust between broadcaster and audience. And the result was transformational in its impact: We know now that when major events occur, the public can offer us as much new information as we are able to broadcast to them. From now on, news coverage is a partnership.« 7

Weiterhin beschreibt er die Rolle des Journalisten in der Zukunft so:

»The journalists‘ role is now to concentrate harder on how, when and where we can add value through our strengths of analysis, context, background and range. But as we do this we must be open to what members of the public bring to our attention. And as long as what they do bring is clearly labeled and attributed, I see no inherent problem with sharing it widely. When handled properly, it adds value and improves quality.«8

Die Aktivität der Internetnutzer in partizipativen Medien ist stark von tragischen Ereignissen mit weitreichenden Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben geprägt. So haben viele US-Blogger nach den Anschlägen auf das Word Trade Center am 11. September 2001 mit dem Schreiben begonnen, weil sie nach eigener Aussage erst zu diesem Zeitpunkt das Gefühl hatten, sie hätten etwas mitzuteilen. Die sogenannten »War-Blogs« haben den partizipativen Journalismus für eine breite Nutzerschicht geöffnet. Vorher waren es vor allem die sogenannten »Early Adopters«, also junge, gut ausgebildete Anwender mit hoher Medienkompetenz und guter Kenntnis von Technologie, die in Weblogs und kollaborativen Plattformen wie Slashdot.com fachspezifische Beiträge verfassten und auch Diskussionen führten. Partizipative Medien mit einem breiten Nutzerspektrum und hoher Reichweite, sind erst durch die eindrücklichen Geschehnisse zu Beginn dieses Jahrhunderts Realität geworden.9

Der Begriff Bürgerjournalist

Die Internetnutzer übernehmen also in zunehmenden Maße die Aufgabe digitales Bild-, Foto- und Videomaterial sowie eigene Wort- und Audiobeiträge über das Internet an Medieninstitutionen zu schicken, oder selbst auf Internetplattformen oder dem eigenen Internetauftritt zu veröffentlichen. Sie recherchieren im Auftrag von Redakteuren, führen Interviews, kommentieren die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses und verfassen Artikel in einem bestimmten Fachgebiet, in dem sie sich auskennen. Diese Fachkenntnisse können ein Vorteil gegenüber professionellen Journalisten sein, die über ein breites Themenspektrum berichten müssen und somit nicht oft über Expertenwissen auf einem Gebiet verfügen.

Diese Arbeiten werden als journalistische Tätigkeiten eingestuft, wonach auch Internetnutzer, die diese Tätigkeiten ausüben als Journalisten bezeichnet werden können. Jan Schaffer gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die Bürger nicht unbedingt darauf Wert legen als Bürgerjournalisten bezeichnet zu werden. Sie können sich im Gegenteil von diesem Begriff eher eingeschüchtert fühlen und so bezeichnet er sie in seinem Aufsatz »Citizen Media: Has It Reached a Tipping Point?« als »contributers«, da sie Material zur Berichterstattung beitragen.10

Ein Hauptunterschied zwischen traditionellen Massenmedien und den Bloggern und Bürgerjournalisten ist, dass anstelle der neutralen Berichterstattung nun häufig Erfahrungsberichte zu lesen sind, die eine lebendige Sprache vereinen mit einem subjektiven Standpunkt. Ganz deutlich wird dieser Standpunkt in den Weblogs, die oft die Berichte der etablierten Medien und diese selbst kritisieren und dabei ihre subjektive Haltung darlegen. Die Standards der professionellen Journalisten werden demnach nicht von allen Nutzern partizipativer Medien akzeptiert und angewandt. Auch die Auswahl der Themen kann oft nicht als relevant für die Nachrichtenberichterstattung angesehen werden. Da diese neuen Medien sich aber nicht zwangsläufig an ein breites, homogenes Publikum richten, sondern eher ein Nischenpublikum bedienen, ist bei den vorhandenen sogenannten »Nano-Zielgruppen« die Themenauswahl nach Reichweite nicht unbedingt notwendig.11

Dabei ist zu betonen, dass partizipativer Journalismus nicht als Äquivalent zu professionellem Journalismus zu sehen ist, sondern eine Ergänzung dazu darstellt. Die Bloggerin und Autorin Rebecca Blood hat die Definition als Journalist von den Tätigkeiten der entsprechenden Person abhängig gemacht:

»When a blogger writes up daily accounts of an international conference (…), that is journalism. When a magazine reporter repurposes a press without checking the facts or talking to additional sources, that is not. When a blogger interviews an author about their new book, that is journalism. When an opinion columnist manipulates facts in order to create a false impression, that is not. When a blogger searches the existing record of facts and discovers that a public figure’s claim is untrue, that is journalism. When a reporter repeats a politicians’s assertions without verifying whether they are true, that is not.« 12

Die Beiträge von Bürgerjournalisten werden in den meisten Fällen redaktionell bearbeitet, und den Bürgerjournalisten stehen Anleitungen zur Verfügung, die ihnen helfen Artikel zu strukturieren und journalistisch zu arbeiten. Oft werden die bestehenden journalistischen Normen auch auf partizipative Medien übertragen. So hat das »Center for Citizen Media« eine Liste mit den Prinzipien der Bürgermedien aufgestellt, zu denen Sorgfalt, Vollständigkeit, Ausgewogenheit, Unabhängigkeit und Transparenz gezählt werden.13

Transparenz als Prinzip

Die Transparenz als Prinzip fordern auch Kovach und Rosenstiel, um das Vertrauen des Publikums wieder zu gewinnen. In der professionellen journalistischen Praxis ist dieses Prinzip noch nicht weitverbreitet.14 In partizipative Medien wird Transparenz jedoch eine hohe Wichtigkeit zugesprochen. So hat eine Produktmanagerin von Technorati namens Mary Hodder einzelne Blogger aufgrund von Fähigkeiten und Prinzipien, die sie anwenden und die bei den traditionellen Medien nicht selbstverständlich sind, als glaubwürdig bezeichnet.

Das Prinzip der Transparenz umfasst dabei die Offenlegung der Motive und der subjektiven Einstellung der Autoren. Hierbei ist auch die Identität des Autors von Belang. Sie sollte nur in Ausnahmefällen wie der Verfolgung von Dissidenten in einigen Staaten verschleiert werden. Die Offenlegung von Quellen, auf die Autoren verweisen ist ebenfalls ein wichtiger Schritt zu Glaubwürdigkeit, den die traditionellen Medienmarken auch im Internet oft vermeiden. Ein weiteres Prinzip ist die Aufrichtigkeit im Umgang mit Falschmeldungen. Diese sollten im Nachhinein korrigiert werden und es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine geänderte Version handelt.15 In der Blogosphäre sind diese Prinzipien unter den Bloggern verbreitet, die sich um Glaubwürdigkeit bemühen.

Die Ethik des partizipativen Journalismus

Die Ethik der Journalisten ist für den professionellen Journalisten, der für die Massenmedien arbeitet, essentiell. Wie sieht es nun aber für das neue System aus? Jay Rosen hat in einem Aufsatz namens »Bloggers vs. Journalists is Over« auf seinem Weblog Press Think geschrieben, die Medien hätten durch ihr langes Bestehen ein Vertrauensguthaben bei den Rezipienten. Volontäre müssen sich in einem Medienunternehmen an die bestehenden Regeln halten, um die Glaubwürdigkeit ihrer Arbeitgeber nicht zu beschädigen und die Marke als solches unverkennbar zu machen. Rosen schreibt dazu:

»This is the number one asset of the news organization: stored trust reputational capital. Any competent journalist knows how to benefit from that: your call gets returned…like magic! But as to how that capital is created, or the transaction of trust that involves people and their connection to the news, the professional journalist is minimally involved.«16

Neue Medien und einzelne partizipative Medienteilnehmer haben dieses Guthaben nicht. Sie müssen sich entweder an den allgemeinen Kodex der Journalisten halten, also aktuell, objektiv, ausgeglichen und unabhängig zu berichten, oder sie bauen ein Vertrauensverhältnis aufgrund neuer Werte auf, wie einen bestimmten Standpunkt oder spezielle Einblicke in sonst nicht nachvollziehbare Vorgänge.

John Hiler schrieb dazu in einem Essay auf Microcontent News:

»For bloggers it’s all about trust too: except weblogs are starting from zero, building their reputations from the ground up. Blog responsibly, and you’ll build a reputation for being a trusted news source. Don’t, and you won’t have a reputation to worry about.«17

Dabei beobachten Wissenschaftler, dass das Verhältnis von Bloggern und Lesern stark durch das erworbene Vertrauen geprägt wird. Wenn ein Blogger zum Beispiel die von ihm sonst immer eingehaltenen Standards verletzt, so rechtfertigt er sich schon im nächsten Satz dafür, denn er weiß, dass sein Publikum sofort auf diesen Ausfall reagieren wird.18

Der Kommunikationsraum Internet hat schon jetzt Auswirkungen auf die von den Journalisten aufgestellten Standards. Wie Kovach und Rosenstiel in ihrem Buch »Elements of Journalism« erläutern, werden die Prinzipien der journalistischen Arbeit immer wieder neu ausgehandelt und abhängig gemacht von den vorhandenen Technologien und ihren Nutzern. In welche Richtung sich der Journalismus weiterentwickelt, hängt eng mit der Weiterentwicklung des Internets als Medium zusammen.

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1 Bowman; Willis 2003: S. 7

3 Bowman; Willis 2003: S. 10, Anmerkungen von Bowman, Willis

4 Gillmor 2004: S. 111

5 Gillmor 2005: S. 10

6 Vgl. Sambrook 2005: S. 12

7 Sambrook 2005: S. 13

8 Sambrook 2005: S. 15

9 Vgl. Schaffer 2005: S. 25, Vgl. Neuberger 2003: S. 132, Vgl. Rosen 2005b: Bloggers vs. Journalists is Over

10 Vgl. Schaffer 2005: S. 23 f.

11 Vgl. Möller 2006: S. 129

13 Center for Citizen Media 2007: http://citmedia.org/node/719

14 Vgl. Kovach; Rosenstiel 2001: S. 80 ff.

CC BY-NC 4.0 Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell 4.0 international.

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